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Porcupine Tree
Über Stiländerungen und mehr ...
Bereits mit dem Album Stupid Dream vollzog sich ein deutlicher Wandel bei der musikalischen Ausrichtung von PORCUPINE TREE. Dies hat sich mit dem neuen Album Lightbulb Sun fortgesetzt. Renald Mienert unterhielt sich mit Steven Wilson über den Drahtseilakt zwischen musikalischem Anspruch und Massenwirksamkeit. 

? Wie würdest du mit deinen eigenen Worten den Unterschied zwischen den alten und neuen PORCUPINE TREE beschreiben?
Unsere Musik ist heute mehr vokal- und songorientiert. Die alten Stücken waren häufig experimenteller, jetzt arbeiten wir mit den ganz normalen Strukturen wie Strophe und Refrain. Instrumentale Passagen sind immer noch wichtig, aber sie sind einfach ein Bestandteil von Songs. Was den kommerziellen Aspekt angeht, wir verkaufen heute natürlich mehr Alben als vorher, da die Musik leichter zugänglich ist, aber weil wir eben auch mehr Rückhalt durch unsere Plattenfirma haben. Mittlerweile nehmen auch die Medien von uns Notiz. Deutschland ist da ein gutes Beispiel, vorher waren wir hier ja bis auf eine kleine Gruppe loyaler Fans kaum bekannt.

? Wie haben denn die alten Fans auf diese Wende reagiert?
Ich hatte eigentlich erwartet, dass einige der alten Fans nicht zufrieden sind, wir dafür aber viele neue gewinnen. Wir wurden ja bisher meistens in die Psychedelic-Prog Schublade gesteckt, und einige konnten unsere Entwicklung wohl nicht mehr nachvollziehen, aber die meisten blieben uns treu. Es gibt eben Leute, die nur bestimmte Musik hören, und wenn du da nicht mehr rein passt, bist du eben einer, der seine Wurzeln verraten hat. Für mich ist das genaue Gegenteil der Fall. Wenn wir weitergemacht hätten, genau die gleiche Art von Musik wieder und wieder zu machen, wäre das Verrat an der Kreativität. Und aus meiner Sicht war diese Entwicklung schon immer ein fester Bestandteil des Konzeptes von PORCUPINE TREE. Und eine Weiterentwicklung ist die beste Möglichkeit, die Fans bei der Stange zu halten. Machst du immer das gleiche, verlören die meisten unserer Fans wahrscheinlich schnell das Interesse an unserer Musik. Und nicht nur die Fans - auch wir selbst. Es wäre sehr schnell sehr langweilig für uns immer die gleiche Art Musik zu spielen.

? Stupid Dream war ein sehr ruhiges Album, vielleicht zu ruhig?
Viele Leute sagten mir, Stupid Dream sei unser bestes Album bis dahin, und das scheint sich so fortzusetzen. Wir wollen natürlich auch mit jedem Album verbessern. Stupid Dream war vielleicht zu soft ausgefallen, dieses mal wollten wir die neuen Elemente in unserer Musik mit denen aus früheren Alben verbinden, aber auch mit Einflüssen aus anderen Richtungen, z.B., Industrial oder Metal. Ich finde, wie sind in allem besser geworden - Songs, Produktion und Zusammenspiel. Und die Verbindung zwischen songorientiertem Arbeiten und experimentellen und avantgardistischen Tendenzen hat auch ganz gut funktioniert.

? Wie verbindet ihr die alten und neuen Songs bei euren Live-Auftritten?
Wir spielen immer noch einige alte Songs, aber der Schwerpunkt liegt natürlich bei dem neuen Material. Zum einen natürlich aus Promotion-Gründen, aber auch weil diese Musik noch sehr frisch und unverbraucht ist, und es ist noch sehr inspirierend für uns, die Songs zu spielen. Manche alten Stücke spielen wir seit sechs Jahren, da ist es schwer, die nötigen Emotionen aufrecht zu halten, die man benötigt, die Songs glaubhaft aufzuführen.

? Unterscheiden sich die Live-Versionen deutlich von den Studioaufnahmen?
Wir setzen uns im Studio keine Grenzen, was die Machbarkeit bestimmter Dinge angeht. Wir fragen nicht, ob sich das auch live realisieren lässt. Ich glaube, wenn man so arbeitet, schränkt man sich selbst zu sehr ein. Für mich sind das zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn du bestimmte Dinge live nicht realisieren kannst, dann darf dich das nicht davon abhalten, das im Studio zu tun. Wozu sollte man dann überhaupt noch ins Studio gehen? Da könnte man sich ja von vornherein auf Live-Alben beschränken. Wir arbeiten auf dem neuen Album zum Beispiel mit Vocal-Overdubs, das geht live nicht. Also werden solche Stücke für die Konzerte neu arrangiert. Dabei muss der ursprüngliche Song erhalten bleiben, er wird sozusagen aus einer anderen Perspektive betrachtet, aus einer Perspektive die mehr für Live-Auftritte geeignet ist.

? Gehen wir mal auf einige Songs des neuen Albums etwas näher ein. Was hat es zum Beispiel mit Last Chance To Evacuate Earth Before It Is Recycled auf sich? Dabei handelt es sich ja um einen Doppel-Titel?
Es sind eigentlich zwei unterschiedliche Kompositionen, die wir zusammengefügt haben. Im ersten Teil geht es um Kindheitserinnerungen, um einen Sommer, den ich mit einem Freund verbracht habe. Sehr nostalgisch, sehr positiv, Es gibt auf dem ganzen Album diese Gegenüberstellung von sehr positiven und eher negativen, zynischen dunkeln Songs. Ich liebe es, über meine Kindheit zu schreiben, diese Songs haben dann noch eine gewisse Unschuld. Aber dieser zweite Teil, den viele dann für eine ökologische Message halten - was nicht stimmt - geht dann genau in diese dunkle Richtung. Die Stimme stammt von dem Führer der Heavens Gate-Sekte. Er befahl seinen Anhängern den Massenselbstmord. Sie glaubten, sie kämen aus dem All, der Untergang der Welt stünde bevor, und der einzige Weg auf ihren Heimatplaneten zurückzukehren wäre Selbstmord. Ich finde solche Sachen auf eine abschreckende Art faszinierend. Ich bin immer wieder verwundert, welche Macht solche Führer über ihre Anhänger ausüben können. Diese beiden verschiedenen Seiten des Albums wollten wir hier in einem Song vereinen.

? Mit Russia On Ice gibt es ja auch wieder einen echten Longtrack ...?
Wir waren ja in der Vergangenheit bekannt für solche Longtracks. Was mir an Russia On Ice gefällt, ist, obwohl der Song sehr lang ist und obwohl es lange instrumentale Passagen gibt, hat er sehr viel von den neuen PORCUPINE TREE - es ist eben trotz der Länge ein Song geblieben, ein Song der wächst und wächst und wächst. Es ist schwer, in einem kurzen Song alles zu sagen was man sagen will und dem Song eine persönliche Note zu geben. Bei einer langen Nummer hast du das Problem, über eine langen Zeitraum die Emotionen der Hörer zu erreichen. Aber ich schreibe nicht gezielt ein langes oder ein kurzes Stück. Ich fange an und manchmal wächst der Song eben auf über zehn Minuten und manchmal nicht.

? Was den Titelsong des Albums angeht, so hat dieser ja auch eindeutig das Artwork inspiriert ...?
Lightbulb Sun ist auch einer der Songs, der auf Erinnerungen an meine Kindheit basiert. Ich war damals acht oder neun Jahre alt und war so etwa zwei Wochen krank. Ich musste die meiste Zeit in meinem Bett liegen und die Vorhänge in meinem Zimmer waren ständig zugezogen. In einer solchen Situation ändert sich das Gefühl, wann ist Tag und wann Nacht, vollkommen, weil das natürliche Tageslicht fehlt. Und die einzige Möglichkeit für mich, mir eine gewisse zeitliche Orientierung zu ermöglichen, war diese Lampe an meinem Bett. War die Lampe an, war es für mich Tag, war die Lampe aus, war es für mich Nacht. Diese Lampe als Ersatz für die Sonne gaben die Idee zu diesem Song, was sich auch im Artwork niederschlägt. Dort sieht man ja einen Jungen in diesem Alter mit der Glühbirne als Lichtquelle. Diese Motiv ließ sich eben auch hervorragend visualisieren.

? Du bist ja auch außerhalb von PORCUPINE TREE musikalisch aktiv, hast unter anderem mit FISH gearbeitet. Was steht jetzt bei dir an?
Es gab und gibt einige Projekte als Produzent, zum Beispiel für eine schwedische Extrem-Metal-Band oder einen norwegischen Sänger, alles sehr unterschiedlich zu PORCUPINE TREE. Aber es ist für mich als Musiker sehr wichtig, sich auch mit anderen Musikrichtungen auseinander zu setzen. Ich werde relativ häufig gebeten, Alben zu produzieren, aber diese Anfragen kommen oft aus dem gleichen musikalischen Umfeld in dem auch PORCUPINE TREE angesiedelt ist, und ich habe an diesen Dingen nicht mehr so viel Interesse. Dadurch, dass ich mich als Produzent auf andere Stile konzentriere, bin ich immer wieder völlig frisch und motiviert, wenn es um PORCUPINE TREE geht.

? Bist du mit der Entwicklung von PORCUPINE TREE zufrieden?
Ich bin zufrieden, dass ich machen kann, was ich will und dass ich meinen Lebensunterhalt damit verdiene. Ich bin zufrieden, dass ich eine treue Fangemeinde weltweit habe und ich bin zufrieden mit den Alben von PORCUPINE TREE. Trotzdem denke ich, dass wir eigentlich viel mehr Platten verkaufen müssten. RADIOHEAD verkaufen 15 Millionen Alben, PORCUPINE TREE verkaufen 15 Tausend Alben. Und wenn du die Musik betrachtest, gibt es eigentlich keine großen Unterschiede. Das ist schon in gewisser Weise frustrierend, aber immerhin ... langsam aber sicher wächst auch der Bekanntheitsgrad von uns. Es dauert bei uns eben etwas länger, weil diese Art von Musik besonders schwer zu vermarkten ist. Da hat es eine reine Metalband zum Beispiel deutlich leichter. Es gibt für fast jedes Genre spezielle Magazine, spezielle Radiosendungen, aber was PORCUPINE TREE angeht, konnte man uns nie so richtig einordnen, weil wir eben nicht in diese oder jene Schublade passen.
Renald Mienert (15.01.2001)